Kapitel acht

Der erste Schritt meines kühnen Plans, Roland zu ruinieren und für mich und Eva die Freiheit zu gewinnen, bestand darin, jeden Tag einige von ihren Pillen gegen solche aus seinem Privatvorrat auszutauschen, den er unter dem Bett aufbewahrte, getrennt von dem mit Talkum verschnittenen Bedarf für den Handel. Anfangs bemerkte er nichts davon, weil die untergeschobenen Talkum-Orbs nur einen Teil seiner täglichen Dosis ausmachten. Dann unternahm ich den nächsten Schritt und drängte Eva, seine anderen Mädchen – sieben im ganzen – in das Geschäft einzubeziehen, denn ihnen ging es nicht besser als uns, argumentierte ich, und deshalb hatten sie denselben Anspruch auf Freiheit. Eva war gleich einverstanden, schlug aber vor, sie einzeln nacheinander einzuweihen, damit Roland nicht auf einen Schlag mit schlechtem Stoff eingedeckt wurde. Das war auch meine Absicht gewesen. Also fügten wir, Woche um Woche, unserer Verschwörung neue Mitglieder hinzu, wenn auch keins der Mädchen jemals erfuhr, woher die erstklassigen Orbs stammten. Sie wußten nur, daß Eva, die als Mittlerin fungierte, einen geheimnisvollen Kontakt hatte, der ihr Blei in Gold verwandelte. Roland, der sich gar nicht vorstellen konnte, weshalb er bei seinen Mädchen nur noch lächelnde Gesichter sah, bekam allmählich die entgegengesetzten Auswirkungen zu spüren – der Stoff hatte nicht mehr den richtigen Biß. Verwundert erhöhte er seine tägliche Dosis und zweigte von den Lieferungen immer größere Mengen für den eigenen Bedarf ab, die ich umgehend entsprechend manipulierte. Den überschüssigen Stoff gab ich an Eva weiter, die ihn in Kapseln füllte und an die Mädchen verteilte. Als eine Art Bonus, wie sie sagte.

Dabei blieb es die nächsten paar Wochen. Roland steigerte seine Dosis auf fünfzehn Pillen pro Tag – keine davon sauber –, bis er endlich auf die Idee kam, seinen Lieferanten des Betrugs zu verdächtigen, und mehrere Kapseln öffnete, zum Glück, nachdem ich Gelegenheit gehabt hatte, den Inhalt auszutauschen. »Das ist schlechter Stoff. Der Typ hat mir Blindgänger angedreht!« brüllte er, stürmte aus der Wohnung und brauste mit dem Caddy zu einem außerplanmäßigen Rendezvous mit seinem Lieferanten, von wo er blutig und zerbeult zurückkehrte, sich von mir verarzten ließ und ächzte, er würde sich zu rächen wissen.

Das erwies sich als leeres Geschwätz, denn sein Lieferant, der über Verbindungen zur Armstrong-Mafia verfügte, ließ es nicht bei der Tracht Prügel als Strafe für seine Unverschämtheiten bewenden, sondern schloß ihn zusätzlich vom Drogenvertriebsnetz aus, was seinen totalen Niedergang einläutete. Keiner der anderen Luden und Dealer wollte mehr an ihn verkaufen, jetzt, da er auf der schwarzen Liste stand, mit dem Resultat, daß er seine Mädchen anbetteln mußte. Von ihnen wurde er an Eva verwiesen, die nur zu gerne bereit war, ihm mit einer Partie seiner eigenen gestreckten Ware auszuhelfen, auf Kredit und zum doppelten Preis, vorausgesetzt, er verzichtete darauf, seine übliche Ludengebühr zu kassieren. Zwar verwahrte er sich tobend und fluchend gegen diese unglaubliche Zumutung, doch bei den ersten Entzugserscheinungen änderte er seine Meinung und akzeptierte demütig ihre Bedingungen. Die Nachricht von dieser bemerkenswerten und entwürdigenden Transaktion verbreitete sich in Windeseile durch den ganzen Bezirk und hatte den totalen Gesichtsverlust zur Folge, sowohl im übertragenen wie auch im wörtlichen Sinn, denn an manchen Tagen vergaß er in seinem Elend, die künstliche Physiognomie anzulegen, ohne die er früher nie aus dem Haus gegangen wäre. Dennoch erkannten ihn die ehemaligen Kollegen an seinem taumelnden Gang und der pathetischen Kraftmeierei und ließen keine Gelegenheit aus, ihn zu verhöhnen.

Da mein Plan, ihn zu vernichten, so ausgezeichnet gelungen war, wandte ich den Blick nach Malibu in der Überzeugung, Eva würde mir zustimmen, daß der Zeitpunkt nicht günstiger sein konnte, denn wenn wir noch länger im Dodger District blieben, endete mit dem Vorrat an Drogen auch ihre Herrschaft über Roland, der als Marionette immerhin dazu getaugt hatte, uns andere Nutznießer unserer Arbeit vom Leib zu halten. Wir hatten dank Rolands Unfähigkeit, seinen Anteil zu kassieren, genügend Mel gespart, um den Sprung wagen zu können, und es wäre der Gipfel der Dummheit, es nicht zu tun.

Doch Eva hatte keine Eile. Ich wußte nichts davon, aber während ich damit beschäftigt gewesen war, Rolands Untergang herbeizuführen, hatte sie sich mittels der überzähligen Pillen, die sie von mir erhielt, einen properen kleinen Kundenkreis aufgebaut. Statt die Ware – wie sie mich glauben machte – kostenlos an die anderen Mädchen weiterzugeben, hatte sie die Orbs zu den üblichen überhöhten Preisen verhökert und ihr neugewonnenes Ansehen im Milieu dazu genutzt, sich mit Rolands Lieferanten ins Einvernehmen zu setzen, der nach Ersatz für den heruntergekommenen Luden suchte. So mußte ich zu meiner Bestürzung erfahren, daß außer Rolands Mädchen auch Schüler und Studenten von den Vorortinseln zu ihren Abnehmern gehörten; diese Transaktionen fanden im Bahnhofsgebäude statt. Da sie meine wichtige Rolle durchaus anerkannte, die ich bei diesem glücklichen Wandel von der Hure zur Drogenhändlerin gespielt hatte, bot sie mir großzügig ein Stück vom Kuchen an. Ich lehnte mit der Begründung ab, daß ich. lieber bei meinem bisherigen und ehrenhafteren Gewerbe bleiben wolle, und versuchte sie dann zu überreden, dieses gefährliche Unternehmen aufzugeben und mich nach Malibu zu begleiten, denn – um die Wahrheit zu sagen – ich hatte Angst, mich alleine auf den Weg zu machen, beschränkte sich doch meine Welterfahrung auf die wenigen Straßen um den Bahnhof und Rolands Wohnung. Doch Eva war nicht mehr daran interessiert, für Miss Pristines Agentur zu arbeiten (früher das Ziel all ihrer Wünsche); eigentlich dachte sie daran, ganz aus der Liebesberatung auszusteigen.

Wie vor den Kopf geschlagen, kehrte ich in die Wohnung zurück, und während ich grübelte, wurde ich mir immer mehr meiner großen Dummheit bewußt, denn indem ich versuchte, ein Unrecht gutzumachen – Rolands Verrat an mir und seine Unterdrückung Evas und der anderen Mädchen –, hatte ich ein neues Übel auf die ahnungslose Welt losgelassen, ohne selbst dabei etwas zu gewinnen. Ich hatte einen verdorbenen Apfel aus dem Faß genommen, doch die Fäulnis hatte schon auf den nächsten übergegriffen, in diesem Fall Eva, die das Erbe des Schurken im Drogenhandel angetreten hatte. Das war meine erste Kostprobe von moralischer Doppelbödigkeit, und ich kann nicht sagen, daß ich Gefallen daran fand. Ebenso bitter war die zweite Konsequenz meiner Tat, denn Roland ging dazu über, seine Sucht durch Straßenraub und Einbruchsdiebstahl zu finanzieren, was er achselzuckend gestand, als ich ihn wegen eines Lasergewehrs zur Rede stellte, das ich in einer Kommodenschublade gefunden hatte. Als dritte und unerträglichste Folge meines blauäugigen Versuchs, die Welt zu verbessern, mußte Annette als Blitzableiter für seine Wut und Frustration herhalten: Damit war der Kreislauf aus Schmerz und Elend, den ich in Gang gesetzt hatte, vollendet und der Schwarze Peter wieder an seinem Ausgangspunkt angekommen.

Der Feigling. Er war sich zu sehr meines +5-Kraftfaktors bewußt – und zu abhängig von dem Mel, das ich von meinem Verdienst für die Miete und den Unterhalt des Caddy beisteuerte –, als daß er sich mit mir angelegt hätte, denn solange ich mich in der Wohnung aufhielt, wagte er es nicht, Annette zu mißhandeln. Also bekam er seine Anfälle, wenn ich unterwegs war. Eines Tages kam ich nach Hause und sah, daß ihre Hautschutzschicht unter seinen Schlägen an verschiedenen Stellen aufgeplatzt war. »Das war längst fällig«, sagte er. Seine Kaltschnäuzigkeit raubte mir die Beherrschung; ich erklärte, daß er bloß mich anzuschauen brauchte, um den Grund für sein Unglück der letzten Zeit vor Augen zu haben. Dann, einmal in Fahrt gekommen, setzte ich ihm haarklein auseinander, wie ich vorgegangen war, und forderte ihn heraus, mich doch zu bestrafen.

Er wirkte dermaßen betäubt, daß ich ihn – wäre er nicht ein Mensch gewesen – für vollkommen deaktiviert gehalten hätte, doch erholte er sich rasch, allerdings nur körperlich; sein Verstand mußte ausgesetzt haben, denn plötzlich schlug er mit beiden Fäusten auf mich ein und schrie, ich wäre ein toter Droide. Ein kräftiger Stoß bereitete dem unwürdigen Schauspiel ein Ende. Er flog gegen die Wand und schlug sich den Kopf an. Während er besinnungslos am Boden lag, durchsuchte ich in aller Eile die Wohnung nach dem Laser, konnte ihn aber nicht finden, also hatte er die Waffe vor mir versteckt. Da es kaum einen Zweifel daran geben konnte, daß er sie bei der nächsten Gelegenheit auf mich richten würde, beschloß ich, nun endgültig zu neuen Ufern aufzubrechen. Ich machte mich schnurstracks auf den Weg zu Evas Wohnung und nahm Annette mit.

Als ich in ihre im siebten Stock eines heruntergekommenen Hochhauses gelegene Wohnung stürzte und verkündete, daß ich Roland verlassen hatte, umarmte sie mich wie eine Schwester. Natürlich konnte ich bei ihr wohnen. »Nein, nein, nein! Wir müssen fliehen, Eva. Jetzt gleich! Nach Malibu. Irgendwohin!« Doch sie lachte über meine Angst, Roland könnte mir etwas antun, bezeichnete ihn als armseliges Würstchen und wiederholte ihre Weigerung, den Bezirk zu verlassen, ausgerechnet jetzt, da sie endlich Macht und Ansehen im Milieu genoß. Nachdem sie mich im Wohnzimmer auf einen Sessel neben der offenen Balkontür gedrückt hatte, ließ sie von ihrem Diener Gebäck und Likör servieren. Nachdem wir über die jeweiligen Vorzüge von Cyberenes (das Fabrikat ihrer Einheit) und General Androids (Annettes Marke) geplaudert hatten, bat sie mich erneut, in ihr Geschäft einzusteigen. Eines ihrer Mädchen, das in ihrem Auftrag dealte, war tags zuvor im Terminal geschnappt worden, und sie benötigte Ersatz, vorzugsweise jemanden mit etwas mehr Verstand, jemanden wie mich. Wieder lehnte ich ab, diesmal mit einem Unterton von Endgültigkeit, denn, wie ich ihr sagte, wenn sie nicht mitkommen wollte, war ich entschlossen, es alleine zu wagen, komme was wolle. Ich stand auf und winkte Annette, mir zu folgen, doch in diesem Moment tauchte der Caddy draußen vor dem Balkon auf, und Roland sah mich. Er hielt den Wagen in der Schwebe und brachte den Laser in Anschlag.

Dieser Anblick war so unerwartet, daß ich im ersten Moment nichts anderes denken konnte als: Er sollte wirklich nicht das Mobil innerhalb der Stadtgrenzen im Flugbetrieb benutzen, er wird einen Strafzettel bekommen. Zu meinem Glück stieß Eva mich beiseite, den Bruchteil einer Sekunde, ehe der Laser seinen Lichtstrahl abschoß, und bevor Roland ein zweites Mal abdrücken konnte, warf sie eine tragbare Mediakonsole nach ihm. Das Gerät traf ihn genau am Kinn, als er aufstand, um mich besser anvisieren zu können. Der Aufprall brachte ihn aus dem Gleichgewicht, und er fiel aus dem Wagen. Wir hasteten zum Geländer und schauten nach unten. Roland lag auf dem Gehsteig; eine blutige Lache bildete sich um seinen Kopf. »O du meine Güte. Du meine Güte.«

Mehrere Zeugen starrten aus den Fenstern eines gegenüberliegenden Gebäudes zu uns herüber. »Es war Notwehr!« rief Eva. Als ihr dämmerte, daß sie der Polizei allerlei würde erklären müssen – ihre Pillen, ihren Lebensstil, ihre Vergangenheit –, wandte sie sich an mich und erklärte: »Candy, wir sind angeschmiert. Steig in den Caddy«, eine Empfehlung, der ich augenblicklich Folge leistete, allerdings nicht, ohne dabei nach Annette zu rufen und sie auf den Rücksitz zu plazieren. Eva griff sich ihr Notizbuch, Orbs und Ersatzmasken, schwang sich auf den Pilotensitz, und wenige Augenblick später waren wir unterwegs zur Bucht.

»Na, hoffentlich bist du jetzt zufrieden!« schimpfte sie aufgebracht, während sie unser Aeromobil auf den Kurs nach Malibu brachte. »Scheiße, Candy, ich lasse dich zur Tür rein, und fünf Sekunden später hast du mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt! Ich kann's nicht glauben! Spring!«

»Eva! Das meinst du nicht ernst!«

»Du kannst deinen heißen Arsch darauf verwetten, daß ich es ernst meine. Nimm dein Jetpack. Jetzt ist nicht die Zeit, das Dummchen zu spielen. Es liegt unter dem Sitz.« Sie griff unter ihren Pilotensessel, zog einen kleinen, rechteckigen Kanister hervor, der an einer Art Rucksack befestigt war, und schnallte ihn um. Endlich begriff ich, daß wir abspringen sollten, befolgte Ihre Instruktionen und wies Annette an, dasselbe zu tun. »Wenn ich sage Spring!, dann spring!«

»Was wird aus dem Mobil?« fragte ich Eva.

»Das fliegt nach Hawaii.« Sie tippte auf die entsprechenden Knöpfe am Armaturenbrett. »Falsche Spur für die Bullen. Jetzt aktiviere dein Jetpack.« Ich gehorchte. »Okay, da ist es, dein dämliches Malibu. Spring!« Damit stand sie auf und sprang über die Seitenwand ins Leere. Fragen Sie mich nicht, woher ich den Mut nahm, aber ich tat es ihr nach und brachte sogar noch die Geistesgegenwart auf, nach Annette zu rufen. Sie wäre andernfalls seelenruhig nach Hawaii weitergeflogen.

Meine Landung verlief alles andere als anmutig, obwohl sie beträchtliche Aufmerksamkeit erregte, da ich ungebeten in eine exklusive Gartenparty hineinplatzte, genau gesagt, schlug ich durch die buntgestreifte Markise über dem Tisch mit den Getränken und Hors d'œuvres. Bei meiner unmittelbar danach erfolgenden Entfernung durch zwei IBM-Sicherheitseinheiten folgten mir die Verwünschungen des Gastgebers, der sich über die Unverfrorenheit der Wochenendtouristen erregte, deren Aufdringlichkeit und Mißachtung der Privatsphäre anderer Menschen – wie an meinem Beispiel deutlich zu erkennen – jedes erträgliche Maß überstieg. Was Eva betraf, ich sah sie über die Baumwipfel auf dem nächsten Hügel hinwegschweben und rief ihren Namen. Sie änderte den Kurs und landete dicht bei mir auf dem harten Kopfsteinpflaster des öffentlichen Fußwegs. Sie demonstrierte mir den korrekten Gebrauch der Höhen- und Steuerhebel, dann erhoben wir uns in die Luft und hielten Ausschau nach Annette, die wir wenige Minuten später in einem nahen Wald entdeckten, wo sie kopfüber in den Ästen eines großen Eukalyptus hängengeblieben war. Ihre Fähigkeiten im Manövrieren mit einem Jetpack schienen in etwa, meinen zu entsprechen.

Nachdem wir sie aus ihrer mißlichen Lage befreit hatten, beschlossen wir, daß es an der Zeit wäre, nach einer Hotelunterkunft Ausschau zu halten, und so machte unser exotisches Trio sich auf den Weg zur Strandpromenade, inmitten der Scharen von Kurzurlaubern, die über den Gehsteigen schwebten. Allerdings sahen wir unseren schönen Plan schnöde durchkreuzt, als Eva zu ihrem größten Entsetzen feststellte, daß sie ihre Handtasche in dem Caddy vergessen hatte. Wir flogen zum Strand, wo Eva als Häufchen Elend in den Sand plumpste und schluchzend hervorstieß, daß nun auch ihre Ersatzmasken futsch waren und – noch schlimmer! – ihr Päckchen mit Orbs, denn jetzt drohte ihr das Schreckgespenst des Entzugs. Kein Grund zur Verzweiflung, ermunterte ich sie, wir brauchten lediglich eine ausreichende Summe von unserem jeweiligen Bankkonto abzuheben und hatten die nötigen Mittel, um von den hiesigen Dealern Stoff zu kaufen und uns eine angemessene Unterkunft zu beschaffen. Aber die Bank würde die Polizei unterrichten, sobald wir uns mucksten, brummte sie. Unser Erspartes konnten wir in den Wind schreiben. »Irgendwelche Vorschläge?« fragte ich Annette, die sogleich in der trockenen, unterkühlten Art aller einwandfrei funktionierenden Einheiten erwiderte: »Um finanzielle Mittel zu erwerben, ist es nötig zu arbeiten.« Woraufhin Eva ausrief: »Aber ich bin es satt, eine Hure zu sein!« Fast meinte ich, die Räder in Annettes Kopf schnurren zu hören: »Mit allem gehörigen Respekt, gnädige Frau, aber gemäß meinem lexikalischen Speicher haben diese beiden Begriffe nichts miteinander gemein.« – »Was du schon weißt«, fauchte Eva, um dann grimmig zu verkünden, daß uns in Anbetracht der Umstände nichts anderes übrigblieb, als die beruflichen Chancen in Miss Pristines Agentur auszuloten, die wir in einer vornehmen Hochhausspirale an der Strandpromenade entdeckten, in der zufällig auch das Hauptbüro der Werbe- und Marketingabteilung Terra von Stellar Entertainments untergebracht war.

Annette wartete draußen, derweil wir durch einen langen Korridor zu den inneren Studiobüros geführt wurden. (Der zur Straße gelegene Empfangsraum von Miss Pristines Agentur diente nur zur Abfertigung der Laufkundschaft, denn der größte Teil des Geschäfts wurde per Telefon abgewickelt.) Unsere Befragung wurde von einem gewissen Harry Boffo durchgeführt – ganz recht, derselbe Gebieter, der später eine hervorragende Position im Hauptbüro in Hollymoon bekleiden sollte –, damals allerdings fungierte er als zweiter Assistent des Vizepräsidenten für Öffentlichkeitsarbeit Terra, in welcher Eigenschaft es zu seinen eigentlichen Pflichten gehörte, Frauen und sonstige Amüsements für einflußreiche Leute, die der Firma nützlich sein konnten, zu organisieren. Im Grunde genommen war er also ein Lude wie jeder andere, Roland zum Beispiel, obwohl jenes Individuum, trotz all seiner Fehler, wenigstens nie ein Hehl aus seinem Geschäft gemacht hatte.

Eva gebärdete sich im Wartezimmer derart nervös, daß sie mich damit ansteckte. Ich bat sie, aufzuhören. »Ich mache mir Sorgen wegen Roland«, bekannte sie mit gedämpfter Stimme. »Es haben Leute schon schlimmere Stürze überlebt. Ich hätte ihn mit dem Caddy plattdrücken sollen. Zur Sicherheit.« Ich bemühte mich, ihre Befürchtungen zu zerstreuen, und versicherte ihr, für mich hätte er durchaus exterminiert ausgesehen, und nachträglich wäre ohnehin nichts mehr zu ändern, außerdem sei ihre letzte Bemerkung unappetitlich und grotesk. Damit beruhigte ich mich selbst, denn die durch ihre Worte heraufbeschworene, erschreckende Möglichkeit, Roland könnte überlebt haben und eines Tages bei uns auftauchen, hatte mir einen gehörigen Schrecken eingejagt. Ich muß ziemlich überzeugend gewirkt haben, weil sie etwas ruhiger wurde, allerdings war es damit gleich wieder vorbei, als sie zum Vorstellungsgespräch gerufen wurde. Wie Harry (er forderte mich auf, ihn Harry zu nennen) mir später anvertraute, erschienen ihm die Proportionen meiner Freundin allzu ausladend und ihr Wesen eher für die Straße geeignet als für die exklusiven Schlafzimmer und Hotelsuiten von Malibu. Ich dagegen entsprach genau den Anforderungen von Miss Pristines Agentur, freue er sich sagen zu können, und von nun an würde er mein ›Manager‹ sein.

Ohne langes Hin und Her wurde ich unter dem Namen Angelika registriert und in ein kleines Holostudio geführt, wo ein Cyberen-9-Fotoprofi bei der Herstellung meines Präsentationsholos Regie führte. In extremer Nahaufnahme ließ ich die gedehnten Silben meines neuen Namens von den Lippen schmelzen, nahm anschließend nackt diverse verführerische Posen ein, plauderte dabei von meinen persönlichen Vorlieben und Abneigungen (ich las sie von einem Teleprompter ab) und versprach alles in allem dem Betrachter die herrlichste Zeit seines Lebens. »Dein Portefolio wird interessierten Kunden übermittelt, wenn sie bei uns anrufen«, erklärte Harry, nachdem ich wieder in sein Büro zurückgekehrt war. Er überreichte mir ein Kontakthalsband mit einem kleinen Knopftelefon als Anhänger, es sah aus wie ein Amethyst, und verlieh der Überzeugung Ausdruck, daß mein Rufer sehr bald summen würde. Wir schüttelten uns die Hände, und bevor ich aus der Tür ging, gab er mir noch rasch ein Exemplar der Hausordnung sowie eine Gebühren- und Auftragsliste. Auf diese Weise nahm ein großes und schillerndes Abenteuer seinen Anfang, eines, das mich in das Reich der wahren Gebieter führen sollte. Zuallererst jedoch stand mir die Aufgabe bevor, meine übergewichtige, pillensüchtige Freundin auf Vordermann zu bringen, damit auch sie in den Kreis der Auserwählten aufgenommen wurde, denn es wäre mir nie in den Sinn gekommen, sie im Stich zu lassen.

Bald hatte ich Grund, meine Loyalität zu bereuen, denn als ich aus dem Haus trat – das Gespräch und die Holoaufnahmen hatten gut zwei Stunden gedauert –, marschierte sie bis zum Platzen geladen auf dem Bürgersteig hin und her. Daß sie abgelehnt worden war (und sie hatte den Job nicht mal gewollt!), versetzte sie zusammen mit den ersten Entzugserscheinungen – laufende Nase, Juckreiz, Niesanfälle – in eine dermaßen üble Stimmung, daß ich klug genug war, mein Glück herunterzuspielen, um sie nicht noch mehr zu reizen. Ohnehin war sie beinahe außer sich wegen der unvorstellbaren Reihe von Mißgeschicken, die ihr innerhalb weniger Stunden zugestoßen waren, seit ich den Nerv gehabt hatte, an ihre Tür zu klopfen. »Ich bin mein Geschäft los, Orbs, Geld, Cyberen, Gesicht und Stolz!« Als ich ihre Sicht der Dinge ein wenig zurechtrücken wollte und darauf hinwies, daß alles viel schlimmer sein könnte, falls man uns nämlich unter Mordverdacht ins Gefängnis eingeliefert hätte, schnauzte sie, daß die Entzugserscheinungen, unter denen sie jetzt leiden mußte, ihr erheblich schwerer zu schaffen machten und daß wir ohne jedes Mel zum Bodensatz der Gesellschaft gehörten. Dann wurde sie plötzlich von heftigen Muskelkrämpfen geschüttelt, gefolgt von der paranoiden Wahnvorstellung, Roland käme blutüberströmt auf dem Plankensteig auf uns zu. Entsetzt suchte sie Zuflucht unter dem Gehsteig und krümmte sich in Embryonalhaltung zusammen. Annette und ich setzten uns neben sie. Sie zitterte und würgte und gebärdete sich, als litte sie alle Qualen der Hölle, doch ging es ihr nie so schlecht, daß sie unfähig gewesen wäre, mich als den einzigen Grund ihres Elends zu verfluchen. »Und erzähl mir keinen Scheiß von wegen selbstbestimmter Realität!«

»Vergiß es«, sagte ich.

»Und ausgerechnet als ich glaubte, ich hätte es geschafft«, jammerte sie zwischen den Krämpfen und schleuderte mir ihre Philosophie entgegen, die die Wechselfälle des Lebens ihr aufgezwungen hatten. Streng deterministisch bestand sie auf der These, daß das Leben eine Sache des Glücks und der Anwesenheit zur rechten Zeit am rechten Ort ist, und insgesamt kommt es einen Dreck darauf an, was man tut oder nicht tut, denn am Ende ist man tot – so oder so.

Welch ungeheure Erleichterung, als mein Rufer summte und ich zu meiner ersten Verabredung aufbrechen durfte. Ehe ich mich auf den Weg machte, versicherte ich Eva, daß ich bald zurück sein würde, mit genügend Mel für ein anständiges Zimmer und etwas zu essen. Es gäbe also keinen Grund zu verzweifeln; während meiner Abwesenheit würde sich Annette um sie kümmern. »Und Dip! Dip! Vergiß nicht, ein bißchen Dip zu kaufen. Ich brauche es!« rief sie mir nach, als ich das Jetpack aktivierte und vom Boden abhob. Später, bei meinem Kunden, war ich von dem Kontrast zwischen der Armseligkeit unserer derzeitigen Situation und der luxuriösen Eleganz seiner Suite im Malibu Cove Hotel dermaßen beeindruckt, ganz zu schweigen von seinem zuvorkommenden und distinguierten Betragen während und nach unserer Sitzung, daß ich mich ernsthaft versucht fühlte, mein sich auf beinahe dreitausend Mel belaufendes Honorar für ein Zimmer im selben Hotel und eine anständige Mahlzeit auszugeben, statt zu Eva zurückzukehren, die alles für ihre albernen Pillen verschwenden würde. War ich Roland entflohen, nur um mir den nächsten Junkie aufzubürden, fragte ich mich. Doch Anstand und Mitleid behielten die Oberhand; ich kehrte zurück. Annette und Eva waren nicht mehr dort, wo ich sie verlassen hatte, und obwohl ich den Strand etliche Meilen weit in jeder Richtung absuchte, gelang es mir bis zum Abend nicht, sie zu finden. Völlig unerwartet hatte sich mein Problem von selbst erledigt; ich war Eva los, und das, ohne mir Vorwürfe machen zu müssen.

Freiheit. Sie entpuppte sich als bis ins letzte Detail so schwindelerregend und furchteinflößend, wie ich mir das immer vorgestellt hatte. Allein der Versuch, ein Hotelzimmer zu mieten, war ein nervenzermürbendes Abenteuer. Ich hatte nie zuvor eine Unterschrift geleistet, also brachte ich keine glaubhafte Signatur in dem Gästebuch zustande, das der Xerox-Nachtportier mir reichte, noch wußte ich, wie man eine Zahlungsanweisung ausfüllte, und natürlich verfügte ich über keine der gebräuchlichen Identifikationsmarken. Als ich mein gesamtes sauer verdientes Mel auf die Rezeption legte, klärte der Portier mich liebenswürdig darüber auf, daß die Hotelleitung bargeldlose Zahlung bevorzugte, mit zwei gültigen Ausweisen bitte. Mir blieb nichts anderes übrig, als das Mel wieder einzusammeln und zu gehen. Dabei saß mir die Angst im Nacken, er könnte mein Verhalten befremdlich genug finden, um die AÜ zu benachrichtigen.

In der nächsten Herberge erging es mir noch schlechter, denn bei meinem hastigen Rückzug nach der auch diesmal fehlgeschlagenen Verhandlung mit dem Portier vergaß ich, das Mel einzustecken, und nachher erschien mir das Risiko zu groß, hinzugehen und es zu holen. Also gab ich auf und flog mit dem Jetpack in die Berge, wo ich die Nacht auf einem Felsvorsprung verbrachte und aufs Meer hinausschaute. Die Angst vor der AÜ ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Jedesmal, wenn ich in Stasis zu sinken begann, schreckte ich bei einem Knistern im Buschwerk oder einem Knacken im Geäst der Bäume auf und wandte mich zur Flucht. »Oh, ich wünschte, Eva wäre hier«, sagte ich laut, aus dem Gefühl unendlicher Verlassenheit heraus. Auch mein Halsschmuck summte nicht, um mir die Möglichkeit zu geben, meine Zahlungsfähigkeit wiederherzustellen. Nun ja, am Morgen entdeckte ich, daß das Jetpack nicht mehr funktionierte. Schuld war ein kleines Leck, das ich am Abend zuvor nicht gesehen hatte. Während des Fußmarsches durch das rauhe und unwegsame Gelände stürzte ich mehrmals und zerriß mir die Kleider, so daß ich bei meiner Rückkehr in die Zivilisation unmöglich aussah. Als mein Halsschmuck endlich Signal gab, mußte ich ablehnen, so schwer es mir auch fiel, und entschuldigte mich bei Harry mit Krankheit, denn kein Kunde, der ein Mädchen von Miss Pristines anerkannter Klasse erwartete, würde sich mit einer derart schäbigen Kurtisane zufriedengeben. Solchermaßen erniedrigt, wanderte ich wie in Trance die Promenade entlang, überwältigt und niedergeschmettert von meinem plötzlichen Unglück. Nach einer Weile verlegte ich mich aufs Betteln, und was ich dabei zusammenkratzte, reichte aus, um mich am Leben zu erhalten; neue Kleider konnte ich mir allerdings nicht leisten, und zum Schlafen mußte ich mich wieder in die Wildnis verkriechen, denn die Polizei scheuchte allabendlich den Pöbel unter den Plankensteigen hervor. Ich erspare Ihnen die Details der unerquicklichen Begegnungen mit allerlei heruntergekommenen Subjekten, die meine unentgeltlichen Dienste forderten, und die furchtbare Geschichte, wie ich von einem Rudel Hunde gehetzt wurde und wie halbwüchsige Knaben mit Unrat nach mir warfen und … Schweigen wir davon. Es war furchtbar, gräßlich, unvorstellbar! Dieses Elend ertrug ich eine Woche und zwei Tage.

 

Mein Leben als Androidin
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